Weine aus dem Goldenen Schnitt: Warum das Weingut Aldinger auf ein Beton-Ei setzt

Eine Reihe von Spitzenwinzern setzt neuerdings auf einen ungewöhnlichen Baustoff, um ihre Weine darin auszubauen: Beton. Ihre Motivation ist ganz unterschiedlich, der Effekt stets gleich. Es entstehen erstaunliche Weine.
Matthias Aldinger

Weine aus dem Goldenen Schnitt: Warum das Weingut Aldinger auf ein Beton-Ei setzt

Eine Reihe von Spitzenwinzern setzt neuerdings auf einen ungewöhnlichen Baustoff, um ihre Weine darin auszubauen: Beton. Ihre Motivation ist ganz unterschiedlich, der Effekt stets gleich. Es entstehen erstaunliche Weine.


An diesem Frühlingsvormittag passiert im Weingut Aldinger etwas derart Außergewöhnliches, dass alle Familienmitglieder ihre Arbeit unterbrechen. Innerhalb weniger Minuten hat sich herumgesprochen, welche Weine Matthias Aldinger gerade aufmacht und sein älterer Bruder und die Eltern eilen in den Verkostungsraum.  

Auf einer langen Holztafel hat er sieben Flaschen aneinandergereiht, davor ein Dutzend Weingläser aufgestellt. Es sind alle jemals produzierten Jahrgänge eines Weines, den Aldinger „Ovum“ genannt hat. An diesem Morgen möchte der Winzer herausfinden, wie sich der Wein nach zehn Jahren entwickelt hat.

Während sich die Familie gespannt um die Flaschenreihe versammelt, steht zwei Stockwerke tiefer ein ungewöhnliches Gebilde, das neben all den Holz- und Edelstahlfässern auffällt. Es sieht aus wie ein menschengroßes graues Ei, wiegt 1,6 Tonnen und hat eine raue, kühle Oberfläche. Es besteht aus reinem Beton und beinhaltet den Wein, der an diesem Vormittag für Aufregung sorgt.

Matthias Aldinger gehört zu einer Reihe Spitzenwinzer:innen, die auf das Baumaterial als Weinbehältnis schwören. Er befindet sich damit in einer kleinen Nische. Schließlich sind in Deutschlands Kellern nur zwei Stoffe üblich: Edelstahl und Holz.

Metallfässer sind geschmacksneutral und luftdicht. Sie bringen damit sehr frische, fruchtbetonte Weine hervor. Ihr Vorteil ist zugleich ein großer Nachteil: Die Weine sind so stark abgedichtet, dass sie sich kaum mehr weiterentwickeln können.  

Ganz anders ist das beim Holz: Hier gelangen winzige Mengen Sauerstoff an den Wein. Einige Molekülgruppen im Wein brauchen Luft, um sich vorteilhaft zu entfalten. Der Wein wird dadurch tiefgründiger und komplexer.  Gleichzeitig gehen beim Holzausbau auch aromatische Komponenten vom Fass auf den Inhalt über: der rauchige Geschmack, den die einen lieben und der andere abschreckt. 

Beton hingegen vereint das beste aus beiden Welten. Der Stoff ist nicht nur geschmacksneutral. Seine feinen Poren ermöglichen gleichzeitig eine Mikrooxidation wie beim Holzfass. „Ich hatte das erstmals im Burgund gesehen und fand das hochinteressant. Die Weine waren nicht nur fruchtig, sondern hochkomplex“, sagt Matthias Aldinger.  In Frankreich und Spanien sind die Beton-Eier geläufiger, während man in Deutschland die Betriebe an zwei Händen abzählen kann. Dabei war der Baustoff auch hierzulande lange Standard im Keller.  

Denn er war nicht nur günstig, sondern auch flexibel. Die Weingüter konnten damit individuelle Weinbehältnisse je nach Platzkapazität schaffen.  Doch es gab es ein Problem: Wein verzeichnet einen sauren pH-Wert, Beton hingegen ist alkalisch. Das Getränk löst sein Behältnis allmählich auf. 

Viele Winzer:innen kleideten ihre Fässer deshalb mit Fließen aus, bis sich das Problem irgendwann von selbst erübrigte. Die Edelstahlfässer kamen auf den Markt und Holzfässer wurden derart günstig, dass sie zur praktikablen Alternative wurden. Der Beton verschwand aus den deutschen Kellern.

Und so gerieten die Vorteile des grauen Stoffs in Vergessenheit, bis einige Winzer ihn in Frankreich wiederentdeckten. Der erste in Deutschland war Daniel Sauer aus Franken. Den größten Vorteil der Beton-Eier, den sieht der er jeden Herbst, wenn der Most zu gären beginnt. Zweimal am Tag lehnt er eine Leiter an das Betonei, klettert hinauf und schaut durch die Deckenöffnung.  „In Edelstahltanks steigt die Gährungskohlensäure senkrecht auf. In den Beton-Eiern hingegen befindet sich der Wein in kreisenden Bewegungen“, sagt er. 

Und hier kommt die eigentümliche Form der Beton-Fässer ins Spiel. In einem Ei steigen die Moleküle in der Mitte mit der Kohlensäure auf und gleiten an den Wänden wieder nach unten. Dabei drücken sie die leichten Stoffe wieder nach oben, es entsteht eine Zirkulation. Oder wie Sauer sagt: „Der Wein bewegt sich in völliger Freiheit.“ Mittlerweile legt er seine besten Weine in die Beton-Fässer.

Als Sauer vor zwölf Jahren begann, mit dem Baustoff zu experimentieren, gab es in Deutschland mehr Vorbehalte gegenüber der Beton-Eier. In Deutschland gab es keine Hersteller mehr, die ersten zwei Behälter kaufte er deshalb bei einem Kollegen Österreich. Hier erfuhr er auch, wie man das alte Problem mit den unterschiedlichen pH-Werten löst: mit einer Paste aus Wasser und Weinsäure. Noch bevor der erste Wein in das Fass kommt, wird diese Mischung auf die Innenwände gestrichen. Nach zwei Wochen reagiert der Beton nicht mehr mit dem Inhalt.

Auch das thermische Verhalten des Stoffes zählt für Sauer zu den entscheidenden Vorteilen. Denn Beton wärmt sich langsamer auf und kühlt langsamer ab. Je sanfter Temperaturschwankungen, desto besser ist das für denWein. „Er wird dadurch harmonischer und bleibt mehr im Gleichgewicht“, sagt Sauer.

Das Beton-Ei ist nach dem goldenem Schnitt gebaut. Jene Verhältnisformel, die weltweit anziehend, ästhetisch und angenehm wirkt. Winzer*innen mit Beton-Ei sind überzeugt davon, dass das nicht für das menschliche Auge gilt. „Wein ist ein lebendiges Getränk. Wenn er sich in Harmonie befindet, entfaltet er seinen ganzen Charakter“, sagt zum Beispiel Ludwig Knoll vom Weingut am Stein.

Und diesen Beweis möchte Matthias Aldinger in Württemberg an diesem Vormittag heute antreten. Als die Familie die Ovum-Weine die Reihe durchprobiert, wird es schnell laut im Probierraum: Sie raunen, diskutieren, staunen. Sein Bruder Hansjörg holt einen Block, um sich Notizen zu machen. „Es ist beeindruckend, wie sehr die Weine ihre Herkunft wiederspiegeln. Und wie viel Tiefgang sie nach vielen Jahren haben!“, sagt er. Auch nach zehn Jahren haben die Weine Frische und Fruchtigkeit, die in außergewöhnliche Mineralik eingebettet ist.

„Wein aus dem Beton-Ei ist für mich ein eigener Weintyp, unabhängig von der Rebsorte“, sagt Aldinger. Diese steht nicht einmal auf dem Etikett. Nur wer nachfragt, erfährt, dass Aldinger Sauvignon Blanc verwendet. Die Trauben wurden mit Füßen gestampft, damit sie schonend aufplatzen und wenig Bitterstoffe in den Saft geben. Auch auf Filtration verzichtet er bei diesem Wein komplett. Das wichtigste ist aus Sicht des Winzers jedoch die Zeit. Zwei Jahre lang verbringt der Wein im Beton, bevor er im perfekten Gleichgewicht ist.

Für Aldinger gibt es nur einen Nachteil der Beton-Eier: Es passen gerade einmal 900 Liter hinein. Deshalb gibt es jedes Jahr auch nur 1000 Flaschen des Ovum. Der Wein ist so beliebt, dass Aldinger ihn rationieren musste. Jeder Kunde darf nur eine Dreierkiste kaufen. 


Dieser Text erschien leicht abgewandelt erstmals in der Zeitschrift BetonPrisma, mehr Infos unter https://www.baukultur-kommunikation.de

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