Jede Stadt hat ihre kulturellen Eigenarten und in Tübingen sind das die sogenannten Gôgen-Witze. Sie laufen immer nach dem gleichen Schema ab: Universitätsstudent trifft auf bauernschlauen Gôg.
„Ein französischer Student fällt in den Neckar und ruft „Au secours! Au secour!“ Er kann sich ans Ufer retten und trifft dort auf einen Gôg, der die Szene beobachtet hat und meint: „Vielleicht hättest du besser Schwimmen gelernt, statt französisch.“
Ein Gôg ist eine uralte, sehr tübingentypische Bezeichnung für einen Winzer aus Tübingen. Und dass es eine volle Kategorie eigener Gôgen-Witze gibt, zeigt, wie präsent und prägend das Weinmachen einst in der Universitätsstadt war. Tübingen, die kleine große Stadt mit den vielen Studierenden, den Stocherkähnen, der omnipräsenten Universität, dem Fachwerk – ja genau diese Stadt hat eine uralte Weintradition, auch wenn der Tübinger Wein heute fast vergessen ist.
Ende des 15. Jahrhunderts gab es in Tübingen eine Rebfläche von rund 400 Hektar (das ist etwa so groß wie 400 Fußballfelder). Heute sind von den ehemals 400 gerade einmal 20 Hektar übriggeblieben.
Ihr findet die Überbleibsel Tübinger Weinbautradition, wenn Ihr die Stadt in Richtung Westen, nach Unterjesingen, verlasst. Dort stehen die Tübinger Weinberge. Und wie wunderschön sie sind: steile Hänge, sonnenverwöhnt, auf alten Steinterassen.
Die Winzer hier arbeiten fast durchweg nebenbei, heute gibt es kaum noch hauptberufliche Weingüter (drei, um genau zu sein). Die meisten keltern den Wein zum Eigenbedarf. Der Wein ist für viele hier ein liebgewonnenes Hobby. Doch gerade viele Städter:innen aus Tübingen (ja, das ist hier das Städtle) unterschätzen die viele Handarbeit der Steillage. Und so wird auch immer wieder ein Rebberg frei. Das sind mal mehr mal weniger gute Lagen.
So wie vor 18 Jahren die Parzelle namens Hirschhalde. Es ist, freundlich gesagt, eine eher unbeliebte Lage. Sie bekommt erst ab 11 Uhr richtig Sonne ab und trotzdem hat man die Arbeit der steilen Hänge. Von den Einheimischen wollte das Stück niemand übernehmen. Und so fiel der Zuschlag auf eine Interessentenfamilie, von der man vorher nie gehört hatte: die „Neigschmeckten“ aus dem Dorf Unterjesingen.
Sabine Koch und Stefan Haderlein waren erst wenige Monate vorher ins Ländle gezogen, nachdem der Familienvater eine Professur an der Uni bekam. Und seine Frau Sabine sah in der Sonnenhalde die Möglichkeit, einen lange gehegten Wunsch zu verwirklichen: ein eigener Weinberg, ein eigener Wein.
Sie war Quereinsteigerin und brachte dennoch eine Kompetenz mit, die ihr einen großen Vorteil verschaffte. Denn Koch ist Bodenchemikerin. Sie wusste von Anfang an, welches Potential in diesen Lagen rund um Tübingen liegt. „Die Sonnenhalde ist in ihrem Terroir wie ein Spiegel des Remstals, nur etwas höher gelegen“, sagt sie. Das Remstal zählt zu den berühmtesten Weinecken im Ländle, nicht zuletzt wegen des unvergleichbaren Bodens: Gipskeuper, Muschelkalk, Schilfsandstein. Perfekt für mineralische Weißweine. Und dass Tübingen etwas höher liegt, ist heute eher ein Vorteil. Während alle Weinbauregionen von den immer wärmeren Temperaturen herausgefordert sind, gibt es hier noch das für Weißweine perfekte cool climate: kühle Nächte, sonnige Tage.
Doch warum geriet der Tübinger Wein bei solch idealen Bedingungen derart in Vergessenheit?
Das hat vor allem mit der Betriebsstruktur zu tun. Es gibt rund 240 Winzer:innen, die winzigste Flächen bewirtschaften. Zwar bietet der Weinbauverein eine tolle Austauschplattform und die Möglichkeit, sich Geräte zu leihen. Doch eine wirkliche Professionalisierung fand nie statt.
„Anfangs haben auch wir unseren Wein im Carport ausgebaut, wie das hier so üblich ist“, sagt Sabine Koch. Die anderen Winzer waren beeindruckt vom Durchhaltevermögen der Zugezogenen, nach und nach bekam Koch auch andere Lagen angeboten. Am konsequentesten aber ist sie in der Nachhaltigkeit: Bis heute ist Sabine Koch die einzige zertifizierte Biowinzerin in Tübingen.
Seit vier Jahren ist Sohn Lukas mit an Bord. Er ist studierter Jurist, doch merkte bereits während des Studiums, wie sehr ihm die Weinwelt seiner Mutter gefällt. Und wer mit ihm raus in seine Weinberge läuft (tatsächlich liegt das Dorf Unterjesingen direkt an den Weingärten), versteht sofort warum. Wenn man mit der Familie an ihrem Weinbergshäuschen sitzt, der Blick über’s Ammertal hin zur Wurmlinger Kapelle, im Hintergrund die schwäbische Alb – da verschlägt es einem die Sprache, weil der Ort so wunderschön ist.
Und so schmecken die Tübinger Weine
Die Tübinger Sonnenhalde ist steil, vieles bedarf dadurch mehr Handarbeit als ohnehin schon. Maschinenarbeit ist hier unmöglich. Die Lage ist nicht flurbereinigt, das heißt die Terrassen sind so kleinteilig und zersplittert wie immer schon gewesen. Das hat jedoch auch Vorteile. „Wir können dadurch parzellenweise Unterschiede im Wein schmecken, das ist beeindruckend“, sagt Lukas haderten.
Bei den Rebsorten setzen sie auf Spätburgunder, Regent, Riesling, Weißburgunder, Kerner und Cabernet Blanc. Die Weißweine sind durchweg geradlinig, oftmals etwas stahlig und von enormer Frische geprägt. Gleichzeitig zeigt Haderlein auch, wie viel Freude er an dem Spiel mit Stilistik hat. Im vergangenen Jahr hat er einen Weißburgunder im Barriquefass ausgebaut, was dem Wein einen wunderbaren Schmelz und fast cremige Textur verleiht. Besonders angetan hat es uns die N-Linie, die spontanvergoren ist.
Sabine und Lukas arbeiten übrigens schon lange nicht mehr im Carport an ihren Weinen, erst kürzlich haben sie ihr neues Kellereigebäude eingeweiht: Hier steht rund ein Dutzend Fässer ganz verschiedener Größen, doch das größte umfasst gerade mal 900 Liter. Denn natürlich ist die Familie Koch und Haderlein mit ihren mittlerweile 1,8 Hektar immer noch ein Mini-Weingut.
Im vergangenen Jahr kelterte die Familie knapp 8500 Flaschen. Das Ziel von Lukas liegt bei rund 15.000 Flaschen. Sein größter Traum ist es, dass er eines Tages hauptberuflich vom Weingut leben kann. Mit Gôgenwitze hat er jedenfalls kein Problem.