Fangen wir mit Stuttgart an: die ordentliche Schwabencity, deren Gehwege sauber und Einwohner:innen sparsam (außer bei Autos) sind. Mehr Städtle als Stadt, der kaum etwas verhasster ist, als Chaos.
Und nun schauen wir auf Naturwein: unkontrolliert, wild, oft unvorhersehbar und meist in einer Preiskategorie, bei denen vielen nicht klar ist, ob es sich auf einen 6er oder 12-er-Karton bezieht – auch Flaschenpreise gemeint sind.
Ok, stimmt natürlich auch nicht (alles). Was hingegen Fakt ist: Einen Naturweinhandel zu eröffnen ist ganz schön mutig, egal in welcher Stadt. Fans von Naturweinen gehören zu der zwar netten, aber unlukrativen Kund:innengruppe, die sehr interessiert ist und stundenlangen Austausch liebt, um am Ende maximal drei Flaschen in den Rucksack zu packen. Die Weine sind derweil so hochpreisig, dass sie viel Kapital auf einmal binden, ohne zu wissen, ob und wann man das wieder reinbekommt. Denn so wirklich sicher sein, ob eine Stadt ausreichend Naturweinszene hat, um einen Laden zu tragen – kann man sich auch nicht.
Dabei kann man auch erstmal ganz niederschwellig einen Naturweinhandel aufmachen – das beweisen gerade Daniel Fels und Philipp von Lintel. Sie haben weder eine große Eröffnung gefeiert, noch haben sie die große Marketing-Bugwelle angeschoben. Dennoch versuchen sie gerade das Experiment Naturwein in Stuttgart.
Wer bei Offgrid einen typischen, verwinkelten Weinladen erwartet, wird überrascht sein: Der Weinladen im Lehenviertel hat letztlich nur ein Regal, in dem alle verfügbaren Weine aufgereiht sind (30-40 verschiedene). Öffnungszeiten gab es über Monate eher auf Zuruf, mittlerweile sind sie zwischen 9 und 18 Uhr da – denn Daniel arbeitet hier weiterhin in seinem anderen Job als Kommunikationsdesigner.
Es war vor allem das Ambiente seines Arbeitsplatzes, das ihn und Philipp auf die Idee mit dem Weinhandel brachte. Denn der Altbau, in dem seine Bürogemeinschaft sitzt, ist wunderschön: alte Fußböden, hohe Decken und zur Straße hinaus ein tiefes Fenster, das sich über die ganze Wandfläche erstreckt. „Wir fanden den Raum einfach besonders und wollten ihn unbedingt nutzen. Da dachten wir, hier versuchen wir es einfach mal mit Stuttgarts ersten Naturweinhandel zu versuchen“, sagt Daniel.
Naturwein war bis dato vor allem ein Hobby. Die beiden liebten den „offgrid-Geschmack“ – also abseits der Norm. Und da sie den Raum ohnehin zur Verfügung hatten: Warum nicht mal ein paar Flaschen mehr bestellen und weiterverkaufen? Mit dieser flexiblen Haltung haben sie 2019 die ersten Winzer:innen kontaktiert und ihre Weine bestellt. Naturweine definieren die beiden als Weine, bei denen keine menschlichen Eingriffe in der Entstehung erfolgen. Sie selbst bezeichnen ihr Segment als „low Intervention wine“. Das heißt: kein Schwefel, kein Zusätze, biologische Anbauweise. „Kurz gesagt: unbehandelter Wein“, sagt Daniel.
So stehen bei Offgrid deutsche Klassiker, wie Bianka und Daniel Schmitt aus Rheinhessen, über etablierte Größen wie Claus Preisinger aus dem Burgenland bis hin zu Urgesteinen wie Rudolf Trossen von der Mosel. Und im Ländle gibt es endlich eine Adresse, in der Naturwein nicht nur als beispielhaftes Exemplar, sondern als breite Auswahl gelebt wird. Neben den aufgezählten Beispielen, gibt es übrigens auch zahlreiche Naturweine von der Loire, doch in dieser Region stecken wir zu wenig drin, um Tipps zu geben. Wir haben naturweinszenentypisch eine halbe Stunde gequatscht und dann zwei Weine in den Beutel gepackt.
OFFGRID