Kurz, bevor es für immer erstarrt, schnüffelt das Schwein nochmal an dem Stiefel, der sich gerade durch das Stroh nähert. Es ist der letzte Stiefel, den das Schwein in seinem Leben wahrnehmen soll und er gehört Karl-Heinz Grießhaber. Das Schwein strahlt an diesem Morgen um kurz nach fünf eine Mischung aus Neugierde und Ruhe aus, wie es da mit seinen zwei Artgenossen durch die Box in einem Nebenraum der Metzgerei Grießhaber am Fuße der Schwäbischen Alb stromert. Bis auf das Rascheln des Strohs und das gelegentliche Schnaufen eines der drei Schweine hier oder eines der beiden Schweine in der Nachbarbox stört kein Laut die Atmosphäre, in der sich der Morgen aus der Nacht schält.
Karl-Heinz Grießhaber streicht der Sau über den Rücken, was diese sich gefallen lässt. Dann geht er an die Schwelle, an der für den Mensch der Übergang zwischen Stall und Fleischerei, für das Schwein der Übergang zwischen Leben und Tod vorgesehen ist. Er greift nach einer etwa halbmetergroßen Zange, die kopfüber in einem Eimer steckt. Prüft, ob der Stromanschluss der Zange richtig sitzt, ob er stark genug eingestellt ist, ob die Greifarme der Zange am Ende nass genug sind.
Strom betäubt das Tier
Dann gleitet er nahezu durch das Stroh, steuert die Sau an, fasst ruhig aber blitzschnell mit der Zange deren Kopf. Die Mimik des Schweins erstarrt in Bruchteilen einer Sekunde zur Maske. Ein Ruck durchfährt den Körper, friert ihn ein. Das Tier fällt um, wie ein Schrank. Karl-Heinz Grießhaber setzt die Zange um, berührt mit den Greifpunkten nun Kopf und Herz für noch einmal weitere vier Sekunden. Das Schwein merkt schon seit der ersten Sekunde nichts mehr.
Mit dem Strom betäubt er das Tier. In der Fleischindustrie werden Schweine heute in der Regel mit Gas betäubt, nicht mit Strom. Was schonender klingt ist in Wirklichkeit quälender für die Tiere: Sie gelangen durch die Gas-Betäubung wie bei einem Tod durch Ersticken in die Bewusstlosigkeit, spüren also in jedem Fall noch einige Sekunden Panik. Der Stromstoß dagegen ist schneller als das Schmerzempfinden, das Tier merkt also nichts.
Die Gelassenheit des Schweins beim Tod
Grießhabers Geselle nähert sich nun von hinten, umschlingt einen Hinterlauf des bewusstlosen Tiers mit einer Kette, an deren Ende ein Kran den Körper aus dem Stall zieht. Zwei Schweine bleiben zurück und schnüffeln weiter durch das Stroh. Sie haben nicht einmal den Kopf gehoben. Am Rand des Geschehens steht Desirée Grießhaber-Vetter, Karl Heinz Tochter und Inhaberin der Metzgerei mit eigener Schlachtung hier. „Das ist gut gelaufen sagt sie.“ Und tatsächlich verrät die Ruhe, die über der Szenerie liegt, nichts davon, dass hier gerade ein Tier aus dem Leben genommen wurde.
„Schweine“, sagt Desirée Grießhaber-Vetter, „merken nicht, wenn ein Artgenosse aus der Gruppe genommen wird. Die machen einfach weiter.“ Und das ist eines der Phänomene, das die Grießhabers sich hier zu Nutze machen, um Tiere würdevoll und wesensgemäß auf den letzten Metern zu begleiten. Es ermöglicht ihnen, das Schlachtschwein in aller Ruhe aus seiner Bezugsgruppe heraus zu töten, ohne Stress, ohne Schmerz. Denn, wie Vater Karl-Heinz sagt: „Wenn das Tier sich wehrt oder sehr unruhig ist, dann belastet mich das.“
Wir alle haben schon zu viel dazu erfahren, unter welchem Umständen in Deutschland Tiere dem Tod entgegengehen, um aus ihnen Fleisch und Wurst zu machen. Das meiste, was wir da aus Großschlachtereien gesehen haben, ist erschütternd. Nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Tiere absolut unwürdig. Dabei werden in Deutschland weit mehr als 95 Prozent aller Nutztiere so getötet – nur die wenigsten kommen aus einer vorbildlichen Schlachtung.
Menschen arbeiten dort unter ausbeuterischen Verhältnissen, bis an die Grenze des körperlich erträglichen. Tiere werden dort gestresst, oft nicht richtig betäubt vor dem eigentlichen Schlachten, dann wegen des verbreiteten Zeitdrucks oft stümperhaft und qualvoll getötet. Daraus ergibt es die Frage: gibt es einen würdevollen Weg, aus Tieren Lebensmittel zu erzeugen?
Drei Merkmale einer guten Schlachtung
Nachdem ich der Familie aus Mössingen-Öschingen beim Schlachten zugeschaut habe, glaube ich: ja, diesen Weg gibt es. Und dieser Weg führt über die einfache Erkenntnis: Da, wo der Mensch ausreichend Raum und Zeit hat, sich dem Tier beim Töten bewusst zu werden, gelingt eine Schlachtung mit Achtung. Die Grießhabers setzen das um, indem sie:
- Ausschließlich biozertifiziert gehaltene Tiere zum Verkauf in der Metzgerei schlachten, die von ihren Landwirt:innen selbst zur Schlachtung geliefert werden. Und auch Tiere zurückweisen, die diesem Ideal nicht entsprechen
- Den Tieren ausreichend Zeit zwischen Anlieferung und Tod geben, damit sie keinen Stress im neuen Umfeld empfinden
- Deutlich mehr Aufwand betreiben, als das Gesetz verlangt: mehr Zeit zum Betäuben der Tiere, kein Fließband, kein Stress, volle Transparenz per Video-Aufzeichnung
Kameras filmen den ganzen Vorgang
Die Grenze zwischen Tier und Fleisch markiert eine silberne, bedeckelte Wanne, die am ehesten einer überdimensionierten Waschmaschine ähnelt. Rechts von ihr hängt das bewusstlose Schwein kopfüber am Haken. Das Tier empfindet zu diesem Zeitpunkt nichts mehr. Ein sauberer Stich, Blut fließt in einen Eimer. Zehn Sekunden, 20, 30. Karl-Heinz Grießhaber fasst die Vorderläufe, massiert in kreisenden Bewegungen das Blut aus dem Körper. Eine Kamera filmt alles, die Bilder bleiben für viele Monate gespeichert. Das ist nicht vorgeschrieben, den Griesshabers aber so lieber. Damit, sollten Fragen zum Vorgehen aufkommen, alles transparent ist. Aber auch, um aus trotz aller Sorgfalt doch möglichen Fehlern zu lernen.
Am Rande des Raums rührt ein Geselle nun in Windeseile den Sauerstoff aus dem aufgefangenen Blut. Damit es nicht gerinnt und später in die Wurst wandern kann.
Karl-Heinz Grießhaber drückt dem Schwein noch einmal aufs Auge. Testen, dass auch wirklich kein Reflex mehr kommt. Zuckt der Körper jetzt nicht mehr, ist das Tier garantiert tot. Dieser Schritt wird in der Industrie oft übersprungen, weswegen es beim nun folgenden Schritt dort zu einigen Grausamkeiten kommen kann. Nicht so bei Grießhabers.
Hier wuchten sie den Körper in diese gigantische Wanne mit kochendem Wasser. Das ist wichtig, um die Borsten einzuweichen und zu lösen.
Deckel zu.
Es schleudert und rumpelt.
Was als Tierkörper hineinging, kommt Minuten später als Fleisch wieder heraus.
Das lebendige Rosa ist einem wachsigen cremeweiß gewichen.
Durch die Luft der Metzgerei mit eigener Schlachtung wabert der Geruch, der entsteht, wenn Fleisch auf Hitze trifft. „Diese Düfte faszinieren mich auch nach all den Jahren noch. Ein Lebensmittel riecht eben“, sagt Karl-Heinz Grießhaber. Während er sich wieder der Box nähert, um das zweite von fünf Schweinen an diesem Tag zu betäuben, hängt ein Kollege Schwein Nummer eins an einem Kettenseilzug auf.
Nun greift das würdevolle, aber nicht unblutige Handwerk das Schlachters in das stille, eifrige Schaffen des Metzgers über.
Vom Wesen zum Fleisch
Dieser nimmt ein Beil, er positioniert sich mit geradem Rücken parallel zum Schwein. Sechs Schläge, dann hängen zwei sauber geteilte Schweinehälften von der Decke. Es mag befremdlich klingen, doch Würde ist der Begriff, der mir hier als erstes in den Kopf kommt. Und zwar dem Tier gegenüber genauso wie dem Handwerk.
Denn in der Industrie nehmen sie eine Kreissäge für diesen Vorgang. Das ist nicht nur pietätlos. Es ergibt auch aus Sicht des späteren Essers keinen Sinn: Knochen, Sehnen, Blut, Fleisch, alles verschmiert, wenn das Sägemesser sich durch den Leib arbeitet.
Alles unter den Augen der Tierärztin
Zu diesem Zeitpunkt ändert sich die Atmosphäre. Die Schweinehälften wandern in einen anderen Raum. Ab hier geht es nicht mehr so sehr um den würdevollen Umgang mit einem Wesen an der Grenze zwischen Leben und Tod. Ab hier geht es um sauberes Metzgerhandwerk. Das Fleisch ist jetzt ein wertvoller Rohstoff. Und so wie die Atmosphäre wechselt, wechselt das Bild: Die Metzger tragen dunkelblau, wenn sie das Tier töten. Grün, wenn sie es zerlegen. Gelb, wenn sie wursten.
Die Tierärztin, die hier jedes geschlachtete Tier nach dem Tod begutachtet, hat in der Zwischenzeit das Schweinefleisch für heute freigegeben. Karl-Heinz Griesshaber trägt gelb, als er sich einem der Metalltische zuwendet.
„So entsteht aus der Energie, die im Fleisch ist, etwas neues.“
Désirée Grießhaber-Vetter
Kleine Schwaden dampfen aus dem Fleisch, das hier liegt. Die Temperatur des Lebens verdampft langsam. Zwei Stunden haben die Griesshabers in etwa Zeit, um aus dem Tier eine fertige Wurst zu erstellen. Denn sie praktizieren für ihre Dorfmetzgerei das Prinzip der Warmfleischverarbeitung. „Das i-Tüpfelchen“, nennt Karl-Heinz Grießhaber das.
„So entsteht aus der Energie, die im Fleisch ist, etwas neues“, erklärt Desirée Grießhaber-Vetter. Im Prinzip geht es darum, für die Wurstproduktion die Körperwärme und Lebenskräfte des Tieres im Fleisch aufzufangen und zu nutzen. Das Fleisch verfügt in diesen kurzen Stunden nach dem Tod noch über so viel Bindekraft, dass keine fremden Bindemittel die Wurst in Form halten müssen. Man sieht das, wenn Karl-Heinz Grießhaber mit der Hand über das Fleisch streicht. Wie schnell aus der rohen Masse etwas ganz Eigenes wird.
Vom Vorteil des Handwerks
Das ist ein absolutes Handwerk, was in der Industrie längst durch mal mehr mal weniger chemische Zusatzstoffe ersetzt wurde. „Dabei ist Warmschlachtung eigentlich simpel“, sagt Karl-Heinz Grießhaber. „Du musst nur Deine Betriebsabläufe darauf einstellen.“
Der Metzger sortiert nun die einzelnen Fleischpartien nach Verwendungszweck. Nur ganz wenig wandert in die Abfallkiste. Eigentlich nur Teile, die der Gesetzgeber als nicht verzehrfähig vorschreibt. „Den Rest verwenden wir möglichst komplett“, sagt Desirée Grießhaber-Vetter. Auch das hat etwas mit der Würde des Tieres zu tun.
Acht Schweine verarbeiten sie in der Metzgerei mit eigener Schlachtung so pro Woche für den Eigenbedarf, manchmal Schafe und Ziegen. Und ein Rind, beziehungsweise seit Corona und der damit verbundenen Teil-Rückbesinnung der Menschen auf wertige Lebensmittel, auch mal drei in zwei Wochen. Hinzu kommen einige Tiere in Lohnschlachtung für umliegende Bio-Höfe. Mehr? Könnten sie womöglich verkaufen. Aber sie könnten dann nicht mehr jedem Tier die Aufmerksamkeit zuwenden, die es verdient. Und deswegen hat die Umsatzmenge hier eine natürliche Grenze: Die verläuft dort, wo man zu Gunsten von Masse Handwerk und industrielle Arbeitsschritte ersetzen müsste.
Von den Tieren, das ist hier die Philosophie, soll möglichst alles eine Verwendung finden. „Wenn wir acht Schweine in der Woche schlachten, dann können wir 16 Filets verkaufen und kein einziges mehr“, sagt Desirée Grießhaber-Vetter. „Um so wichtiger ist es, aus den anderen Teilen auch etwas zu machen.“ Und dieses etwas beginnt bei Klassikern wie Lyoner und Maultaschen und endet bei Gourmet-Leberwurst mit Bourbon-Vanille oder Salsiccia mit Rotwein aus dem benachbarten, kleinen Tübinger Weinbaugebiet.
„Gewürze sind der Ursprung der Wurst.“
Karl-Heinz Grießhaber
Also sortiert Karl-Heinz Grießhaber nun die Fleischstücke vor. Die Salsiccia, eine italienische, grobe Bratwurst, etwa bekommt eher mittel-fettes Fleisch, fast ohne Sehnen. Für die Bauernbratwurst darf es mehr Fett sein, für die Lyoner am besten gar keins. Während der Lehrling, der hier alles verfolgt, die Maschinen für das Brät vorbereitet, steigt Karl-Heinz Grießhaber eine kleine Holztreppe hoch. Hier, im Obergeschoss seiner Fleischerei, hat er eine Gewürzkammer. „Gewürze sind der Ursprung der Wurst“, sagt er. „Dabei haben schon während meiner Ausbildung alle mit Fertigmischungen gearbeitet.“ Für ihn kam das nicht in Frage.
Warum gute Wurst weniger Salz braucht
Warum die Tiere in den Tod so sorgfältig begleiten, und dann danach das Fleisch mit künstlichen Zusätzen verramschen?
Also beziehen sie hier Bio-Gewürze und mischen sie selbst zusammen. Es riecht nach Kümmel, Ingwer, Fenchel. So intensiv. „Von diesen guten Bio-Gewürzen braucht man zum Teil nur die Hälfte der Menge wie bei Industriemischungen“, sagt seine Tochter Desirée. Genauso ist es beim Salz. „Da gehen wir einen Mittelweg: Die Industrie nimmt deutlich mehr, um das Fleisch haltbarer und steriler zu machen. Braucht dann aber auch wieder mehr Zucker, um das auszugleichen.“
Gegensatz Industrie und Handwerk
So ist es oft im Gegensatz von Industrie und Handwerk: Die einen brauchen Hilfsmittel, mit denen die Nebenwirkungen des Massenbetriebs ausgeglichen werden müssen; die anderen arbeiten so, dass erst gar keine Nebenwirkungen entstehen und brauchen dann auch wiederum keine Ausgleichsmittel.
In der Metzgerstube rührt die Maschine sich mittlerweile durch das Brät. Es kommt die Gewürzmischung dazu. Dann der Rotwein. Am Ende wird in einer Mischung aus Hand- und Maschinenarbeit das Brät in einen Naturdarm gedrückt. Der kleine Rest, der übrig bliebt, weil sich daraus keine 60-Gramm-Wurst mehr formen lässt, wandert direkt in eine Pfanne.
Vater und Tochter Grießhaber reichen das Brät zur Probe. Vor drei Stunden habe ich dieses Stück Fleisch noch an einer Sau gesehen, die mich aus neugierigen Augen anguckte. Der Gedanke ist ungewöhnlich. Er hat aber an diesem Vormittag in diesem Betrieb nichts unanständiges mehr. „Die Liebe“, hat Desirée Grießhaber-Vetter irgendwann während der vergangenen drei Stunden gesagt. „Die Liebe steckt bei uns im Produkt.“ Und, das muss man nach dieser Schlachtung sagen: Das beginnt hier beim lebenden Tier, nicht erst beim toten.
Adresse: Metzgerei Griesshaber, Reutlinger Str. 37, 72116 Mössingen
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ÖPNV: Von Reutlingen HBF fährt der Bus 155 bis Öschingen Reutlinger Straße