Dorfstube auf der Alb: Essbare Landschaften

Gerd Windhösel hat aus einer kargen Umwelt wie der Schwäbischen Alb allerlei Produkte hervorgezaubert, die zusammen eine Sterne-Küche ergeben. In seinem „Hirsch“ bei Reutlingen serviert er das in einer gehobenen und einer bodenständigeren Variante.

Dorfstube auf der Alb: Essbare Landschaften

Gerd Windhösel hat aus einer kargen Umwelt wie der Schwäbischen Alb allerlei Produkte hervorgezaubert, die zusammen eine Sterne-Küche ergeben. In seinem „Hirsch“ bei Reutlingen serviert er das in einer gehobenen und einer bodenständigeren Variante.


Wir haben uns schon mehrfach für das nicht mehr ganz so seltene Konzept begeistert, wenn ein Sternekoch auch noch ein weiteres Restaurant auf niedrigerer gastronomischer Eskalationsstufe betreibt. Das bringt in aller Regel mehrere Vorteile mit sich: der Zweitladen ermöglicht für kleineres Geld einen guten Voreindruck des handwerklichen Könnens, man sitzt meist etwas lockerer und die Weinkarte im „schlichteren“ Laden profitiert vom Spitzenbetrieb (da der Weinkeller meist der gleiche ist). Was wir aber eigentlich noch nie erlebt haben: dass es im Zweitbetrieb deutlich schwieriger ist, einen Platz zu bekommen, als im renommierteren weil besternten Restaurant. Im „Hirsch“ bei Gerd Windhösel ist es genauso. Was schon einen guten Eindruck des gesamten Konzeptes verschafft: Hier wird vermeintlich Kleines und Einfaches so ernst genommen, dass daraus Großes entsteht.

Gerd Windhösel betreibt auf der Schwäbischen Alb – genauer gesagt in Sonnenbühl, hinter Reutlingen – das seit zwei Jahrzehnten besternte Restaurant Hirsch – und im gleichen Haus besagte Dorfstube. Das Phänomen mit dem überbuchten Zweit-Betrieb liegt nicht nur an der herausragenden Qualität, sondern auch an dessen Größe. Die Dorfstube verfügt nur über ein knappes Dutzend Sitzplätze. Die sind urgemütlich in einer hölzernen Kammer angerichtet, die an keiner Stelle spießig wirkt. Wir haben drei Anläufe gebraucht, um hier einen Tisch zu ergattern. Es empfiehlt sich, dabei nicht locker zu lassen. Denn die Dorfstube ist die ideale Vorstufe, um die Küche von Gerd Windhösel so verstehen zu lernen, dass man sich im zweiten Schritt das besternte Restaurant gönnen und auch verstehen kann.

Das Menü

Der Abend hier beginnt in aller Regel mit einem Gruß aus der Küche, der schonmal den Blick auf Windhösels Philosophie lenkt: Zu feinem Brot gibt es etwa ein Leindotteröl statt des omnipräsenten Olivenöls, einfach weil es direkt in der Nachbarschaft wächst. Wir irritieren den unglaublich unprätentiösen und eifrigen Service kurz, indem wir nach der Möglichkeit einer mehrgängigen Abfolge der eher unkompliziert gehaltenen Karte fragen, überzeugen ihn dann aber von genau diesem Vorgehen. Denn tatsächlich bietet sich der Reigen an Vorspeisen an, um sich einmal durch Windhösels Küchenphilosophie zu probieren.


In den folgenden zwei Stunden wandern auf den Tisch: gepökeltes von der Schweinebacke mit gepickelten, noch lauwarmen, Radieschen und Raps. Süß-saure Lamm-Nieren aus der Nachbarschaft, ein heimischer Rucola mit Albkäse und Alblinsen, Ziegenfrischkäse von der Alb, mit einer ganz sanften Karamellkruste überzogen, Rhabarber, Linsen und Bergpfeffer und eine Forelle aus der benachbarten Echaz mit Dinkelgraupen und Zucchini. Das ist alles einerseits auf Tellern angerichtet, die die Einheimischen hier als „reell“ bezeichnen. Andererseits so unglaublich fein gearbeitet und mit viel Sensibilität für das Alb-Terroir zusammengestellt, dass sich der Zusammenhang von Region, Produzent:innen und Koch ganz von alleine erschließt. Das alles ist so angelegt, dass Gäste mit Lust oder Budget für nur einen Gang oder ein Vesperbrett sich genauso willkommen fühlen, wie wir und unsere Lust auf viele bunte Gänge an diesem Abend.

Die Philosophie

Die Windhösels, und das erschließt sich sofort, stammen eben aus dieser Ecke, die ansonsten weder gastronomisch noch strukturell verwöhnt ist. Hier haben sie aus sich, ihrer Umgebung und den dortigen Produzenti:nnen ein kulinarisches Gesamtkunstwerk geformt. Etwa wenn Gerd Windhösel eine Haferwurzel entdeckt und die bei einem Bio-Bauern in der Gegend kauft. Dieser konzentriert sich fortan noch mehr auf die Entwicklung dieses bis dahin fast vergessenen Produktes, darüber werden wieder mehr Menschen darauf aufmerksam und am Ende wird eine Pflanze wieder auf den Märkten Stammgast, die schon fast verschwunden war. 

Wer das verstanden hat, ist bereit für das Sternerestaurant. Einen deutlich gediegeneren Raum im hinteren Teil des Gebäudes, in dem ein deutlich klassischeres Ambiente die Gäste ummantelt. Das Konzept hier ist im Prinzip: Dorfstube plus. Und zwar: plus wenige, ausgewählte Zutaten aus der internationalen Spitzenküche, technisch auf der Höhe der Zeit zubereitet. Hier gibt es dann eben den Seeteufel zu Mangold und Buchweizen oder das Wagyu zum schön schlotzig-cremigen Pastinakenpüree. Auch noch deutlich regionalisiert, aber eine Eskalationsstufe weiter.

Die phänomenale Weinkarte

Es lohnt sich, im dazugehörigen Hotel die Übernachtung gleich mitzubuchen. Denn: Die Windhösels holen nicht nur aus der Landwirtschaft ihrer Umgebung das Optimale heraus. Sie sind auch große Wein-Freunde. Und das spiegelt die Weinkarte, die für beide Restaurants identisch ist, ziemlich pointiert wider. Zum einen, weil sie sowohl die großen Württemberger und Badener Häuser recht vollständige beinhaltet, aber auch den unkonventionelleren Neustarter:innen der Baden-Württemberger Szene, wie den Jungs von KSK, eine Bühne bereitet und eine in dieser Region einmalige Frankreich-Auswahl bietet. Und vor allem, weil das alles unfassbar gastfreundlich kalkuliert ist. Hier merkt man, dass ein Gastgeber-Paar Weine aus Freude am Wein verkauft und nicht, um damit eine fehlende Rentabilität des Essens auszugleichen.

Adresse: Im Dorf 12, 72820 Sonnenbühl
ÖPNV: Bahnhof Reutlingen, von dort mit dem Bus 7635 bis zur Haltestelle Erpfingen Sonnenmatte, von dort 200m

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